Krieg ist das Furchtbarste, Grausamste, das einem Menschen geschehen kann. Er tötet, zerstört Familien und Freundschaften, zerreißt Leben. Und neben denen, die ihn überleben, gehen die Dämonen den Rest des Lebens einher.
Meine Mutter war ein Kind, als Hitler der Welt den Krieg erklärte, noch keine Jugendliche, als sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester mit der „Kinderlandverschickung“ aus Berlin evakuiert wurde. Fortan fern der Heimat, Eltern und älteren Schwester nicht mehr zu wissen, wie es denen Zuhause geht, muss so beängstigend gewesen sein, dass sie ihre Gefühle für immer weg geschlossen hat.
Einiges hat sie aus dieser Zeit erzählt, wieder und wieder. Von dem strengen Regiment der Lehrerin, die wohl klare Regeln und Grenzen vorgab, aber keine Wärme hatte. Aber vielleicht war es auch wichtiger, etwas zu haben, an das man sich halten konnte? Vor allem, wenn man nicht wusste, ob man je nach Hause zurück kehren konnte? Ob das Zuhause, die Eltern noch dort waren, wenn man es heim schaffte?
Und von der Flucht, als die Alliierten von allen Seiten dieses zerbombte Deutschland einnahmen. Über verlauste Scheunen, in denen sie schliefen. Keine fünfzehn Jahre alt, aber stundenlang auf den Feldern irgendwelcher Bauern für eine Mahlzeit ackerten. Für ein paar Kartoffeln nur, vielleicht ein Stück Brot, das keinen satt machte.
Vor allem von dem Flüchtlingszug, der wohl als solcher nicht zu erkennen war. Irgendjemand musste vergessen haben, die roten Kreuze auf die Dächer der Waggons zu malen. Vielleicht war auch einfach keine Farbe mehr da. Und dann kamen die Tiefflieger. Hielten den Zug für einen Militärtransport. Feuerten, was das Zeug hielt.
Meine Mutter blieb unverletzt – am Leib. Sah Scheiben bersten, Kinder sterben, die berüchtigten Dumm Dumm Geschosse im Rücken, im Bauch. Musste helfen. Verletzte aus dem Zug holen, in den nahen Wald schleppen, in Deckung. Sortieren, wer lebt, wer ist tot.
Sie hat es geschafft, mit ihrer Zwillingsschwester zusammen. Irgendwo in Bayern hat ihre Mutter sie gefunden, die sich auf den Weg gemacht hatte, ihren Kindern entgegen. Verlaust. Dreckig, Halb verhungert. Aber am Leben. Wenn auch mit schwer verletzter Seele.
Ein restliches langes Leben hat meine Mutter davon erzählt. Immer mal wieder. Und stets dafür gesorgt, dass alles immer sauber ist, dass niemand Hunger hat, dass Ordnung herrscht. Hat lebendig und tot fortwährend sortiert. Das ganze Leben eine unglaubliche Anstrengung, ein einziges sich zusammen reißen, die Dämonen in Schach halten.
Die Tür zu den Gefühlen musste sie dafür meist geschlossen halten. Konnte nicht riskieren, dass sie ganz aufgeht und frei lässt, was dahinter gefangen ist und zu viel Kraft hat, als dass ein einziger Mensch es kontrollieren könnte. Hat wohl auch gefürchtet, dass diese Monster ihr Leben in friedlichen Zeiten zerfressen würden. Hat uns nicht zugetraut, dass wir an ihrer Seite stehen würden. Oder aber es uns nicht zumuten wollen.
Jetzt gibt sie auf. Hat ein Leben lang gekämpft und kann nun nicht mehr. Hat keine Kraft mehr. Will wohl auch nicht mehr. Das Leben nurmehr eine Qual, eine Anstrengung, für die sie die nötigen Energien nirgendwo mehr herholen kann.
Mit ihr und den Menschen ihrer Generation sterben die Erinnerungen daran, was Krieg für einen Menschen, eine Gesellschaft bedeutet – wenn wir es nicht weitergeben, wenn wir nicht daran festhalten.