Woran erkennen wir, dass etwas wahr ist? Woran machen wir Wahrheit fest? Und gibt es überhaupt die eine, objektive Wahrheit? Oder ist für jeden immer genau das wahr, was er oder sie glaubt?
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr“, sagte meine Mutter zu mir. Ich war sechs und ging in die erste Klasse. Sie hatte heraus gefunden, dass ich nicht – wie behauptet – zur ersten Stunde in der Schule sein musste, sondern zur zweiten. Ich fühlte mich sehr schlecht und mickrig. Und das nicht nur, weil sie mir diesen Blick voller Enttäuschung zuwarf, sondern auch, weil ich sie aus einem ziemlich lausigen Grund angelogen hatte. Meine Schulfreundin hatte mich tags zuvor gefragt, ob ich sie abholen würde, so dass wir zusammen zur Schule gehen könnten. Sie wohnte ziemlich weit weg und ich nahm daher an, dass meine Mutter es verbieten würde. Also fragte ich vorsichtshalber gar nicht erst. Ich verriet die Wahrheit für eine andere von deren Existenz ich überzeugt war, ohne einen Beweis für ihr Dasein zu haben.
Jahre später hielt ich eine flammende Rede über die Frage, wer entscheiden sollte und konnte, welche Wahrheit wahr sei. Humanistisches Gymnasium, Oberstufe, zweites Semester, Politische Weltkunde (heute heißt das Fach Politikwissenschaft). Die Hausaufgabe hatte daraus bestanden, zwei Texte miteinander zu vergleichen und zu begründen, welcher davon richtig sei. Beides waren Definitionen des Begriffs „Wahrheit“. Einer aus einem Lexikon der Bundesrepublik Deutschland, der andere aus einem der DDR. Ich donnerte, die Wahrheit sei hier nicht festzumachen. Zudem ginge es doch nur darum, das eine politische System durch Diskreditierung des anderen zu rechtfertigen.
Pubertärer Revoluzzer-Geist oder Annäherung an eine gut maskierte Wahrheit?
Inzwischen bin ich in der Mitte meines Lebens angekommen. Die Kindheitserfahrung, welch große Enttäuschung ich mit einer einzigen Lüge verursachen kann, begleitet mich bis heute. Sie hat mich ebenso geprägt wie die jugendliche Erkenntnis, wie schwer es sein kann, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, weil Menschen oft manipulative Wesen sind. Und immer mal wieder (nämlich dann, wenn es für mein Gegenüber unbequem wird) wird mir die Frage gestellt, ob ich nicht das für wahr hielte, was ich glaube.
Damit sind wir wieder beim Anfang, nämlich bei der Frage, ob es eine Wahrheit gibt. Oder viele? Für jeden gar seine eigene?
Gegenfrage: Wenn der Rot-Grün-Blinde Rot als Grün sieht, ist es dann Grün oder doch Rot?
Vielleicht ist die Wahrheit einfach nur eine so unbequeme Angelegenheit, dass wir sie leugnen, biegen bis zur Unkenntlichkeit? Sie zwingt uns, das wahr zu nehmen, was wir nicht sehen, nicht wissen wollen, weil es uns mit uns selbst konfrontiert. Uns Seiten an uns vor Augen führt, die wir nicht wahr haben wollen. Uns Abgründe zeigt, die sich in uns auftun, Monster, die in uns wohnen und derer wir nicht gewahr werden wollen.
Und, aufgefallen, wie oft das Wort „wahr“ im letzten Absatz aufgetaucht ist? Und mit wie viel Verneinung es verbunden ist?
Gibt es also doch nur die eine Wahrheit? Nämlich jene, die wir meist nicht WAHR haben wollen? Denn das wird ja unendlich viel leichter, wenn wir flugs behaupten, jeder hätte seine eigene Wahrheit. Dann noch schnell den Vorwurf hinterher geschoben, „für dich ist doch auch nur wahr, was du glaubst“, schon sind wir fein raus. Oder nicht?