Authentizität. Überall wird sie herbeigerufen, eingefordert, gar eingeklagt. Ob im Privaten, im Beruf oder als Unternehmen – jeder und alles soll authentisch sein. Schön und gut, aber wie viel Ehrlichkeit vertragen wir überhaupt?
Ich bin ein Verfechter der Ehrlichkeit. Immer schon gewesen und werde es bleiben. In der Vergangenheit hat mir das nicht unbedingt nur Pluspunkte eingebracht. Immer raus mit der Wahrheit heißt eben leider auch, dass Unbequemes, Unschönes ans Tageslicht gelangt. Und wer kann das schon gut verkraften? (Mir selbst fällt es bisweilen auch nicht gerade leicht.)
Aber jetzt ist das ja anders. Schließlich sind wir im Zeitalter der Authentizität angekommen. Sogar in Fachartikeln zu Social Media Strategien – also z.B. der Präsenz eines Unternehmens auf Facebook und Twitter – wird man mit mehreren Ausrufezeichen aufgefordert, „zeigen Sie die menschliche Seite Ihres Unternehmens, seien Sie authentisch“. Wenn das also sogar für das Geschäftsleben gilt, dann doch erst recht fürs Private, oder?
Nun denn, könnte man sich sagen, immer raus mit den Ecken und Kanten. Lasst die Monster frei. Zeigt auch das hässliche Gesicht. Spielt mit den Dämonen fangen, und schickt die blinde Kuh in den Ruhestand. Oder doch lieber nicht?
Ich habe es ausprobiert. Hier, in diesem Blog. Habe von dem geschrieben, was mich tief innen bewegt, auch dem, was mir Angst macht, mir den Schlaf raubt. Habe gewagt zu sagen, dass das Leben nicht immer ein rauschendes Fest ist. Das Partyhütchen abgesetzt, das Glitzerpulver versteckt, die Musik abgestellt, das Licht ausgemacht… Und die Zeche gezahlt.
Von „ich lese deinen Blog nicht mehr, weil mich das zu sehr belastet“ bis hin zu „das kann man doch auch heiter schreiben“ reichten die Kommentare – im Freundeskreis wohl gemerkt. Von Menschen, die mich nicht persönlich kennen, kamen einfühlsame, warme Worte. Was aber soll man nun daraus schließen?
Vertragen wir vielleicht nur ein gewisses Maß an Authentizität? Können wir etwa der Wahrheit nur in homöopathischen Portionen ins Gesicht sehen?
Wir alle haben von allem und jedem eine Vorstellung, eine Erwartungshaltung, gespeist aus unseren Erfahrungen und Beobachtungen. Manchmal ist es auch ein Wunschdenken, das so groß und mächtig ist, dass wir es für die Realität halten. Je mehr wir von jemandem oder von einer Sache wissen, desto besser meinen wir, ihn oder es zu kennen und umso detaillierter ist unsere Erwartungshaltung. Hand in Hand damit geht allerdings leider auch unser Vermögen, enttäuscht zu werden.
Authentizität vertragen wir also immer nur in dem Maß, in dem das, was sie enthüllt, unserer Erwartung entspricht.
Heißt das nun im Umkehrschluss, dass wir unsere Ehrlichkeit dosieren müssen? Nein, ich glaube, Ehrlichkeit ist die Basis für Vertrauen und somit für jedes Miteinander. Wir müssen einfach besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.
Noch besser wäre es natürlich, wenn wir einfach den Mut aufbrächten, uns aufeinander einzulassen. Zu akzeptieren, dass unsere Erwartungen dann und wann nur Hirngespinste sind. Dass wir nie alle Facetten des anderen kennen, egal wie viel Zeit und Leben wir schon miteinander verbracht haben.
Wenn wir es als Abenteuer begreifen würden, uns selbst nach fünfzig gemeinsamen Jahren Tag für Tag neu kennenzulernen, dann könnten wir uns wahrlich nahe kommen.